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Die Ritualmordlegende und der Hostienfrevel

Wilhelm von Norwich

Wilhelm von Norwich
Wilhelm von Norwich

Die erste bekannte mittelalterliche Ritualmord- oder Blutverleumdunganklage gegen Juden war die aus dem Jahr 1141. Opfer sei der zwölfjährige Kürschnerlehrling Wihelm von Norwich.

Berichtet darüber hat Thomas von Monmouth, ein Benediktinermönch in Norwich, der zwischen 1150 und 1173 in 7 Büchern “Über das Leben und Leiden des heiligen Märtyrers Wilhelm von Norwich“, in dem er die Legende vom jüdischen Ritualmord erstmals literarisch gestaltete.

Seine Darstellung enthält bereits die wesentlichen Elemente, die uns bei allen späteren Ritualmordbeschuldigungen immer wieder begegnen werden: Ein Christ kauft bzw. entführt ein christliches Kind und liefert es den Juden aus; diese wiederholen an ihm die Passion Christi und unterziehen es grausamsten Martern, befestigen es mit ausgespannten Gliedmaßen an einem Holzgerüst und töten den so Gekreuzigten schließlich durch einen Stich in die Seite.

Kürschner bei der Arbeit
Kürschner bei der Arbeit

 

Der zwölfjährige Wilhelm sei also von Juden in Norwich zur Ausbesserung von Pelzen herangezogen worden.

Am Dienstag der Karwoche gab ihn seine Mutter einem Boten der Juden, der sich als Koch des Archidiakons ausgab, ihren Sohn gegen Zahlung von drei Schilling als Gehilfen mit. Die kleine Tochter von Wilhelms Onkel, dem Priester Godwin Sturt, sah, wie der Knabe mit dem angeblichen Koch (wahrscheinlich der tatsächliche Mörder) im Haus eines Juden verschwindet.

 

Nachdem sie ihn getötet hätten, hätten sie ihn sofort im benachbarten Wald begraben wollen, seien aber von einem Bürger von Norwich gesehen worden und aus Angst entdeckt zu werden, seien sie geflohen.

Kreuzigung des Wilhelm von Norwich
Kreuzigung des Wilhelm von Norwich
Buchmalerei 1493

Noch in derselben Nacht zeigten sich Lichtwunder bei der Leiche, die in dieser Weise gefunden wurde (Karsamstag, 25. März 1144) und als Wilhelm identifiziert an Ort und Stelle begraben wurde. Sofort fiel der Verdacht auf die Juden von Norwich, die Priester Godwin Sturt wenige Wochen später auf einer Diözesansynode des Mordes an Wilhelm anklagte. Auf Bitten Priors Aimar von Sussex, den Leichnam des “Märtyrers“ in sein Kloster mitnehmen zu dürfen, wurde dem Bischof erst dessen Wert bewusst, was was im 12. Jahrhundert eine finanziell überaus lukrative Angelegenheit mit handfesten wirtschaftlichen Vorteilen war, denn die fromme Schaulust ließ sich trefflich ausmünzen. Schließlich ließen auch die Wallfahrer für Unterkunft und Verpflegung, für Messen und Pilgerzeichen gutes Geld in den Städten. Am 24.4.1144, also ein Monat noch der Ermordung, ließ man die Leiche Wilhelms auf den Friedhof des Domklosters überführen, wobei “himmlischer Wohlgeruch“ und völlige Unversehrtheit seines Körpers Heiligkeit offenbarten.

Sebastian Vranx: Wallfahrer bei einer Stadt
Sebastian Vranx: Wallfahrer bei einer Stadt

 

Im zweiten Buch berichtet Thomas von Monmouth von den ersten fünf “Wundern“ am Grabe Wilhelms (verteilt auf 6 Jahre) und versucht, die verbreiteten Zweifel betreffend der Schuld der Juden und der Heiligkeit des jungen “Märtyrers“ durch nachgeschobene Indizien zu zerstreuen. Hierbei beruft er sich auch auf die Erzählungen des Mönchs Theobald von Cambridge, eines jüdischen Konvertiten, nach dem die spanischen Juden (Sepharden) alljährlich einen Christen opferten, da sie gemäß alter Schriften nur durch solches Blutvergießen Freiheit und Heimat wiedergewinnen könnten. Der Ort des Opfers würde jährlich durch das Los ermittelt, das 1144 auf Norwich gefallen sei.

 

Zubereitung von Matzen
Zubereitung von Matzen

Dagegen fehlt jedoch die erst nach 1215 erhobene Anschuldigung, Juden würden Christenblut zu rituellen oder magischen Zwecken verwenden (Hostienfrevel, Zubereitung von Matzen oder zu medizinischen Zwecken).

 

In den restlichen fünf Teilen des Werkes von Thomas werden über 100 weitere Wilhelm zugeschriebene “Wundertaten“ aus späterer Zeit geschildert, vor allem Heilungen und Offenbarungen. In der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde die zunächst rasch zunehmende Verehrung des offiziell niemals heiliggesprochenen Wilhelm von Norwich allerdings zusehends durch den noch populäreren Märtyrerkult um den achtjährigen, vermutlich ertrunkenen Hugo von Lincoln (gest. 1255), einem weiteren Objekt der Blutverleumdunganklage, verdrängt.

Obwohl im Zusammenhang mit der Anklage wegen des Mordes an Wilhelm keine Todesopfer zu beklagen waren, verbreitete sich in Europa der christliche Volksglauben, dass Juden alljährlich zur Osterzeit unter Anleitung ihrer Rabbiner einen unschuldigen christlichen Knaben entführten, folterten und töteten.

Richard von Pontoise

Königs Philip II. August
Königs Philip II. August

Zur Zeit des französischen Königs Philip II. August berichteten die Chronisten Robert von Torigni und Wilhelm der Bretone über mehrere Morde an christlichen Kindern, die von Juden getötet worden seien.

1171 gab es zwei Anklagen wegen Kindesmord, eine gegen die Juden von Orleans und eine andere gegen die von Blois, die letzte in der Osterzeit. In Blois wurden etwa 30-40 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Am 25. März 1179 haben wir das Martyrium des Heiligen Richard von Pontoise, wofür die Juden von Pontoise angeklagt wurden.

Der französische Humanist Robert Gaguin (1433–1501) beschreibt in seiner Hagiographie Acta Sanctorum (lat. Taten der Heiligen) die Tötung eines Christen als einen jährlichen Brauch und berichtete über ein Verhör Richards in einer Höhle durch einen jüdischen Priester, der Richard aufforderte seinen Glauben zu verleugnen. Richard wurde gekreuzigt und auf dem Kreuz sollen Bibelnotierungen gestanden haben. Sein Körper wurde nach Paris transportiert, wo er auf dem Friedhof der Unschuldigen (Cimetière des Innocents) beigesetzt wurde.

Richard von Pontoise
Richard von Pontoise

Das Ergebnis des Martyriums war eine große Verfolgung durch König Philip Augustus und die Ausweisung der Juden aus Frankreich im Jahr 1182.

Anscheinend soll Richard so viele Wunder gewirkt haben, dass sein Ruhm so sehr wuchs, dass die Engländer, die Paris von 1420 bis1435 besetzt hatten, ihn exhumierten und ihn, mit Ausnahme des Kopfes, nach England überführten. Am Vorabend der Französischen Revolution im Jahr 1789 befand sich der Kopf Richards noch im Friedhof der Unschuldigen.

 

Harald von Gloucester

Harald von Gloucester
Harald von Gloucester

Am 18. März 1168, 4 Wochen nachdem der kleine Harald entführt worden war, wurde die Leiche des christlichen Kindes im Fluss Severn von einigen Fischern gefunden.

Harald, der angeblich von den Juden aus Gloucester erschlagen und in den Fluss geworfen worden sei, wurde mit großem Prunk vor den Altären von St. Edmund und St. Eduard dem Bekenner, auf der Nordseite der St. Peter Kirche in Gloucester begraben und als Märtyrer verehrt.  

 

Werner von Oberwesel 

Werner von Oberwesel
Werner von Oberwesel

(auch Werner von Bacharach oder Werner von Womrath); Werner wurde 1271 als armer Knabe geboren und hatte sich in Oberwesel als Tagelöhner bei einem jüdischen Weinbauern verdingt. Den 16-jährigen Knaben fand man am Gründonnerstag 1287 in der Nähe von Bacharach erschlagen auf. Nach der Ritualmordlegende sei er von Juden, für die er Erde aus einem Keller schaufeln musste, ins Haus gelockt und zu Tode gepeinigt worden; sein Blut hätten diese Juden für ihre Passahfestriten benötigt, seine Leiche sei in den Rhein geworfen worden.

Werners ungeklärter Tod führte im Jahr darauf zu blutigen  Judenverfolgungen  im ganzen Rheinland. 26 beschuldigte Juden wurden allein in Bacharach ermordet. Die jüdischen Gemeinden wandten sich an König Rudolf I., der von der Grundlosigkeit der Beschuldigungen überzeugt war. Deshalb legte er den beteiligten Bürgern eine Geldbuße auf und befahl, die Leiche Werners zu verbrennen, um einer weiteren Verehrung vorzubeugen. Die Anweisungen wurden jedoch nicht befolgt.

Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil strich das zuständige Bistum Trier den Namen Werners 1963 aus dem Heiligenverzeichnis. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass Werner tatsächlich wohl einem Sexualverbrechen zum Opfer fiel.

Heinrich Heine erinnerte in seiner fragmentarischen Erzählung Der Rabbi von Bacherach an dieses Ereignis.

l'incompleta Wernerkapelle in Bacharach sul Reno
l'incompleta Wernerkapelle in Bacharach sul Reno

Um die Leiche des Jungen entstand ein Kult: Man schrieb ihr besondere Leuchtkraft zu und weigerte sich zunächst, sie zu beerdigen. Werner wurde als Märtyrer mit einem Fest jedes Jahr am 19., später am 18. April verehrt. Dieser Kult wurde im Bistum Trier erst 1963 eingestellt.

 

An der Wernerkapelle Bacharach mahnt heute nach der Restaurierung an ein Gebet von Papst Johannes XXIII. zum geschwisterlichen Umgang zwischen Juden und Christen:

„Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, daß ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wußten nicht, was wir taten."

(Dieses Bußgebet verfasste Papst Johannes XXIII. kurz vor seinem Tode, 1963.)

Rudolf von Bern

Rudolf von Bern mit Märtyrerpalme
Rudolf von Bern mit Märtyrerpalme

Aus der Berner Chronik ernehmen wir, dass am 17.4.1294 in Bern der 4-jährige christliche Rudolf ermordet aufgefunden wurde. Aus Hass auf den christlichen Namen sollen die Berner Juden ihn nach dem Muster der Ritualmordlegende entführt, eingesperrt, grausam gemartert und schließlich getötet haben.

Kirchliche Untersuchungen ergaben, dass Rudolf als wahrer Märtyrer gestorben sei und daher in der Hauptkirche, der Berner Leutkirche, am Kreuzaltar, der den Namen “Rudolfsaltar“ erhielt, beigesetzt werden müsse. Der selige Märtyrer zog zu seiner Verehrung eine Menge Gläubige an.

In Bern kam es zu einer massiven Judenverfolgung. Zahlreiche Juden wurden überfallen, ausgeplündert und gerädert.

Obwohl die Behörden nicht an die Schuld der Juden glaubten, denn die Akten sprechen ausdrücklich nur von einem „angeblichen“ Ritualmord, sahen sie im Volkszorn eine Gelegenheit zur Tilgung der Schulden bei jüdischen Geldgebern.

Adolf von Nassau
Adolf von Nassau

Die verfolgten Juden klagten beim römisch-deutschen König Adolf von Nassau, doch der von ihm bestellte Ausschuss fällte einen Schiedsspruch zugunsten der Reichsstadt Bern, wonach die Berner Juden ihre gesamten Guthaben und alle bernischen Pfänder und Schuldbriefe verloren, dem Schultheißen und der Stadt eine hohe Buße zahlen mussten und für immer aus der Stadt vertrieben wurden; bis ins 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz fast keine Juden mehr.

Die Akten zeigen, dass weder der König noch das Gericht an einen Ritualmord glaubten, da sie ausdrücklich nur von einem „angeblichen“ Mord sprechen.

Als das Berner Münster gebaut wurde, übertrug man die Gebeine Rudolfs 1435 in dessen Kreuzaltar; der Kult um den Knaben wurde jedoch nie offiziell bestätigt. Beim Bildersturm im Jahre 1528 entfernte man die Gebeine aus dem Münster und bestattete sie in ein Erdgrab außerhalb der Kirche.

zur Vergrößerung des Kindlifressers
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Kindlifresserbrunnen
Kindlifresserbrunnen in Bern

 

 

Um 1545/46 soll zu Rudolfs Ehren der Kindlifresserbrunnen in Bern errichtet worden sein.

Über den Sinn dieser Darstellung herrschen allerdings die verschiedensten Deutungen. Eine davon will die Brunnenfigur, ein sitzender Oger (Unhold), der Kindlifresser eben, durch den Spitzhut als ein Jude sehen, der gerade ein nacktes Kind verschlingt.

Zudem waren früher Hut, Gürtel und Ärmel der Figur gelb bemalt, entsprechend der damaligen jüdischen Kleiderordnung.

 

 

 

Anderl von Rinn

Das Kind Andreas von Rinn im Volksmund Anderle oder Anderl von Rinn genannt, wurde am 26.11.1459 in Rinn bei Hall in Tirol (Österreich) geboren und soll angeblich am 12. Juli 1462, während seine Mutter auf dem Feld arbeitete, von seinem Taufpaten an durchreisende jüdische Kaufleute verkauft und von diesen geschächtet (nach jüdischem Ritus mit Durchschneidung der Schlagader, Luft- und Speiseröhre) worden sein.

die Ermordung des Anderl
die Ermordung des Anderl

 

Sein Leib ruhte 13 Jahre lang ohne besondere Beachtung von Seiten der Kirche und des Volkes im Friedhof von Ampass, ein Ort in der Nähe von Rinn.

Andreas von Rinn
Andreas von Rinn

Erst 1475, zwei Monate nach dem angeblichen Ritualmord an Simon von Trient, wurden die Gebeine des Buben unter Anteilnahme einer großen Volksmenge zum Stein des Martyriums getragen und in der Kirche von Rinn ehrenvoll beigesetzt. Dies geschah am Dreifaltigkeitsfest des Jahres 1475. Ab dieser Zeit begann die öffentliche Verehrung des heiligen Märtyrerkindes, die bald durch viele Wunder einen ungeheuren Aufschwung nahm.

Das „Anderle von Rinn“ wurde aber nicht nur vom einfachen Volk, sondern auch vom habsburgerischen Tiroler Herrscherhaus angerufen und verehrt, so dass Kaiser Maximilian I. 1670 veranlasste an der Stelle, an der die Bluttat geschah (Judenstein) eine neue Kirche zu bauen. Die Kirche wurde den Unschuldigen Kindern und Anderl von Rinn gewidmet. Auf dem Felsblock, der sich in der Kirche befindet, wurden 1744 eine hölzerne Figurengruppe des angeblichen Geschehens aufgestellt.

Papst Benedikt XIV. erlaubte die Verehrung des Anderl und sprach das Kind am 15.12.1752 selig. Bis ins 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Bilder und Statuen des Anderl an den Häusern der Umgebung angebracht und ihm zu Ehren Feiertage begangen.

Oft wurde der Kult des Anderle zu antisemitischen Kundgebungen missbraucht. Die Nationalsozialisten machten die Anderl-Geschichte zum Unterrichtsstoff und veröffentlichten sie im “Stürmer“.

Kaiser Maximilian I. am Ort des Martyriums
Kaiser Maximilian I. am Ort des Martyriums

Der Festtag des „Anderl von Rinn“ wurde schließlich 1953 vom Innsbrucker Bischof Paulus Rusch aus dem kirchlichen Kalender gestrichen. 1985 veranlasste Bischof Reinhold Stecher die Entfernung der angeblichen Gebeine des Anderl aus der Wallfahrtskirche in Rinn.

1987 brachte der Wiener Weihbischof Kurt Krenn eine Verehrung wieder ins Gespräch, wofür ihn der Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher heftig kritisierte. 1994 verbot dieser den Kult um den Judenstein offiziell, ließ ein Fresko mit der Darstellung des Ritualmords in der Ortskapelle überdecken und die Kirche in „Mariä Heimsuchung“ umbenennen. Das Hochaltarbild und Teile der barocken Deckenfresken wurden durch marianische Darstellungen ersetzt, auf den Stein kam eine Ölberggruppe.

der Judenstein in der Mariä Heimsuchung Kirche
der Judenstein in der Mariä Heimsuchung Kirche

Trotzdem findet nach wie vor alljährlich am Sonntag nach dem 12. Juli eine privat organisierte Wanderung zum „Judenstein" bei Rinn statt.

 

Mit der Ritualmordlegende setzte man sich auch auf literarischem Wege auseinander. Um 1620, als der damalige Arzt am adeligen Damenstift in Hall, Hippolyt Guarinoni, von dem Mord gehört haben soll, verfasste er im Jahr 1642 ein Buch über den Vorfall: „Triumph Cron Marter Vnd Grabschrift des Heilig Unschuldigen Kindts“. Weitere Schriften über den Ritualmord an Andreas von Rinn stammen von Pater Hadrian Kembter (1745), Pater Benedikt Cavallesio (1747) und Flaminius Cornelius, Senatsherr von Venedig. Auch die Brüder Grimm veröffentlichten die Geschichte des Anderl im Jahre 1816 in ihrem ersten Band deutscher Sagen.

Durch Volksschauspiele, die auf den Schriften von Guarinoni basierten und bis ins Jahr 1954 veranstaltet wurden, verbreitete sich die judenfeindliche Legende. Das erste Anderl-Spiel fand 1621 in Hall (Tirol) statt.

Grabstein des Anderl von Rinn
Grabstein des Anderl von Rinn

Simon von Trient

Jacopo Palma der Jüngere: das jüdische Passahfest
Jacopo Palma der Jüngere: das jüdische Passahfest

Am Gründonnerstag 23. März 1475, unter anderem auch der Tag des jüdischen Passahfestes, verschwand in Trient der zweieinhalbjährige christliche Simon, der Sohn des Gerbers Andreas Unverdorben.

Der Koch des jüdischen Geldverleihers Samuel in Trient entdeckte drei Tage später, also am Ostersonntag, die Leiche des Kindes im Keller seines Herrn, im Wasserbecken, in dem das Wasser aus dem städtischen Rinnstein für den täglichen Gebrauch aufgefangen wurde.

Gemeinsam mit Vertretern der jüdischen Gemeinde (der Geldverleiher Engel und der jüdische Arzt Tobias) meldete Samuel den Behörden den Fund. Eine Untersuchung der Leiche erbrachte Wunden am ganzen Körper.

Peterskirche in Trento
Peterskirche in Trento

Am gleichen Abend wurde das tote Kind in die nahe Peterskirche gebracht und ungefähr 30 männliche Juden sowie Brünnlein (Brunetta), die Gemahlin des Samuel, wurden verhaftet und des Mordes angeklagt, weil der Leichnam in Gegenwart seiner angeblichen Mörder angefangen habe zu bluten.

Noch einige Tage zuvor hatte in Trient der Franziskaner Bernardino da Feltre antijüdische Predigten gehalten und dabei auch von Ritualmorden gesprochen. Seine Predigten und der Vorfall sollten dann später den Untergang der jüdischen Gemeinde Trient, die Vertreibung der Juden aus Perugia, Gubbio, Ravenna und aus anderen italienischen Städten zur Folge haben.

 

Sixtus IV.
Sixtus IV.

Monatelang fanden nun im Auftrag des Trienter Fürstbischofs Johann Hinderbach Verhöre statt. Obwohl Papst Sixtus IV. und Erzherzog Sigismund von Tirol den Verhören des Fürstbischofs von Trient nicht einverstanden waren, ging der Prozess weiter.

Die Angeklagten, die zunächst jede Beteiligung an den Vorgängen entschieden abstritten und erklärten, dass die jüdische Religion die Tötung eines Menschen strickt ablehnt, hielten sie die dauernde Anwendung der Folter nicht aus und stimmten schließlich der von den Richtern vorbereiteten Mordversion zu: Man habe den kleinen Simon angelockt, ihn in Fleisch und Genitalien geschnitten, Blut abgezapft und das Kind ermordet. Das Blut eines unschuldigen Christenkindes werde zum Passah gebraucht, weil man damit Matze backen und den Christengott verhöhnen würde.

Darstellung des Ritualmordes von Trient in der Nürnberger Chronik
Das Bild stellt den Ritualmord an Simon von Trient dar. Die Juden sind an ihrem gelben Ring erkenntlich.
Als einzige Frau tritt nur Bruneta, Frau des Geldverleihers Samuel, links im Bild auf und wird von lsrahel aufgefordert, neue Mordwerkzeuge zu bringen. Im Zentrum erkennt man den kleinen Simon, der in der Stellung eines Christus am Kreuz gehalten wird. Während Thobias, Mayir und Vital Haut und Fleisch des Kindes anbohren, um Blut zu gewinnen, schneidet Moyses in den Genitalbereich. Saumel hält das Kind fest und Angelus fängt das Blut auf.

 

Simon von Trient
Simon von Trient

15 der mutmaßlichen Straftäter wurde daraufhin das Eigentum konfisziert und anschließend zum Tode verurteilt. Zwischen dem 21. und 23. Juni wurden sie vor den Toren der Stadt hingerichtet.

Die Verurteilung der Juden gab dem Fürstbischof Hinderbach die Gelegenheit den kleinen Simonino als Märtyrer zu betrachten, denn noch während der laufenden Verhöre machten die Nachrichten von erstaunlichen Geschehnissen am Sarg des Knaben die Runde; bis Ende Juni 1475 zählte man 129 Wunder, die mit dem ,,seligen Märtyrer Simon von Trient" in Zusammenhang gebracht wurden.

Es setzte ein Strom von Pilgern ein, die am Grab des Kindes beteten und Geld spendeten.

Papst Sixtus IV. verbot unter Androhung der Exkommunikation, die Verehrung des allerseligsten Simonino, weil für ihn die Umstände des Todes des Kindes nicht klar waren. Aber die Verehrung der Gläubigen aus ganz Europa, hörte nicht auf, überging das päpstliche Verbot und wurde zu einer Tatsache.

Caesare Baronio
Caesare Baronio

Der Kult bestand auch im folgenden Jahrhundert, so dass Caesare Baronio, italienischer Kardinal und Kirchenhistoriker, seinen Namen 1584 in das "Martyrologium" eingefügte. 1588 auf Antrag des Bischofs von Trient gewährte Papst Sixtus V., die Verehrung und somit die Zustimmung zu einer formellen Seligsprechung.

Zentren des Kultes wurden die zu Ehren Simons errichteten Kapellen am Ort der Tötung und der Entführung und die Peterskirche, wo der kleine Körper einbalsamiert aufbewahrt wurde. Neben der jährlichen Feier des 24. März gab es bis 1955 alle 10 Jahre eine große Prozession mit dem Körper des Kindes und den Reliquien der Werkzeuge des angeblichen Märtyrertodes. 1782 machte die Ritenkongregation den seligen Simon zum zweiten Diözesanpatron von Trient.

Simon von Trient
Simon von Trient

Genauere Untersuchungen über den angeblichen Ritualmord führten im 19. Jahrhundert zum Ausschluss der jüdischen Riten.

Obwohl sich bei Traditionalisten Widerspruch regte, wurde der Kult am 28. Oktober 1965 durch päpstliches Dekret, mit der Begründung die Trienter Juden seien Opfer eines Justizirrtums geworden, offiziell unterdrückt; im neuen römischen Martyrologium von 2001 ist Simon nicht mehr verzeichnet.

Die sterblichen Überreste des kleinen Simon Unverdorben wurden auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt.

1979 kam es bei einem Treffen zu einer ausdrücklichen Versöhnung zwischen der Stadt Trient und den Juden. 1984 wurde die „Via San Simonino", w o der Kleine mit seinen Eltern gewohnt hatte, in „Via Simonino" umbenannt.

 

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Hostienfrevel von Sternberg 1492
Hostienfrevel von Sternberg 1492.
Ein Priester verkauft dem Juden Elihart geweihte Hostien,
die nach Messerstichen zu bluten beginnen.
Darstellung von Diebold Schilling 1513 (Ausschnitt)

Hostienfrevel = Die Anklage, das Blut getöteter Menschen für rituelle Zwecke zu verwenden, wurde bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert erhoben, und zwar von Römern gegen die Christen.

Daraus entstand später (zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert) die Umkehrung, Juden würden Hostien stehlen und sie durchbohren, was als schweres religiöses Vergehen galt und zu Verfolgungen und Pogromen führte.

 

Im Mittelalter wurde der konsekrierten Hostie, vor allem nach der römisch-katholischen Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre, die sich in den realen Leib Jesu Christi verwandelt, höchste Wunderkraft beigemessen.

 

Matze = (ungesäuertes Brot) ein dünner Brotfladen, der von religiösen und traditionsverbundenen Juden während des Pessachfestes gegessen wird. Hergestellt werden sie aus Wasser und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Triebmittel.
Matzen werden zur Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten gegessen. Gemäß der Überlieferung in der Torah blieb den Israeliten beim Aufbruch keine Zeit, den Teig für die Brote gehen zu lassen (2. Mose 12,33-34: Die Ägypter drängten das Volk, eiligst das Land zu verlassen, denn sie sagten: Sonst kommen wir noch alle um. 34 Das Volk nahm den Brotteig ungesäuert mit; sie wickelten ihre Backschüsseln in Kleider ein und luden sie sich auf die Schultern.)

Wallfahrt = auch Pilgerfahrt genannt, ist religiös motivierte Fahrt beziehungsweise Wanderung zu heiligen Stätten, Gräbern oder Gnadenbildern; in den meisten Religionen verbreitet; bei den Wallfahrern (Pilgern) in der Regel mit der Vorstellung verbunden, am Wallfahrtsort Gott besonders nahe zu sein, und verknüpft mit der Erwartung, dort Stärkung des persönlichen Glaubens, Gewinn religiöser Erkenntnis, Heilung von Krankheiten, Hilfe in pers önlichen Notlagen und Sündenvergebung zu erlangen.
Wer z. B. 1350 eine Wallfahrt nach Rom unternahm, dem wurde Generalabsolution für all seine Sünden erteilt. Das war in der Zeit des Schwarzen Todes (Pest) ein attraktiver Grund für eine Wallfahrt. Schließlich wusste man ja nicht, wie lange man noch lebte und wollte zuvor noch seine Sünden loswerden.

Passah = (hebr. Pesach: “Vorübergehen“); eines der drei jüdischen Hauptfeste (neben dem Laubhütten- und dem Wochenfest) zur Erinnerung an die Verschonung vom Würgengel (Exodus 2. Mose 12, 23: Wenn der Herr durchs Land geht, um die Ägypter zu töten, und das Blut an den Pfosten und Balken sieht, wird er an diesen Türen vorübergehen; er wird dem Todesengel nicht erlauben, in eure Häuser einzudringen und euch zu töten.) und an den Auszug aus Ägypten. Es wird am 14. Nisan, d.h. am ersten Vollmond des Frühlings gefeiert mit einem abendlichen Familienmahl, bestehend aus ungesäuertem Brot (Matze), bitteren Kräutern und einem Bratenstück, das an das Passah-Lamm, das bis zur Tempelzerstörung (70 n. Chr.) zu Passah im Jerusalemer Tempel geopfert wurde, erinnert. In Israel dauert das Passahfest sieben, in der Diaspora acht Tage.

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