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Die bessarabischen Juden unter russischer Herrschaft

 

der Ansiedlungsrayon im Russischen Reich
der Ansiedlungsrayon im Russischen Reich

als der 8. russisch-türkische Krieg 1812 endete, wurde der östliche Teil des Fürsten-tums Moldau vom Russischen Reich annektiert und in den schon seit 1791 bestehenden Ansiedlungs-rayon1 eingegliedert.

Fortan hieß dieses Land Bessarabien und bildete jetzt das westlichste und kleinste Gouvernement „Neurusslands" mit einem autonomen Status, d.h. die Region wurde weiterhin von den moldauischen Bojaren regiert und die moldauische Sprache fand weiterhin Verwendung. Die Grenze zum verbliebenen Teil des Fürstentums Moldau blieb lange Zeit recht durchlässig.

polnische Juden
polnische Juden

Durch den Autonomiestatus wurden die restriktiven zaristischen Rechts-vorschriften in Bessarabien zunächst nicht angewandt und viele Juden siedelten sich dort aus anderen Teilen des Ansiedlungsrayons an.

Den Juden wurden ihre bürgerlichen Rechte, die sie vor der russischen Herrschaft hatten, einschließlich Wohnsitz in Dörfern und den Ausschank von alkoholischen Getränken an Bauern, was russischen Juden unter dem "Judenstatut"2 von 1804 verboten waren, bestätigt.

Zu jener Zeit lebten in Bessarabien ca. 20.000 Juden, 60% in den Städten und 40% in den Dörfern, die als Schankwirte, im Handel, in der Brauerei, in der Landwirtschaft und in der Verpachtung von Getreidemühlen, Fischereien und Wäldern beschäftigt waren.

 

die Bevölkerungsrevision von 1816
die Bevölkerungsrevision von 1816

In der ersten Bevölkerungs-revision im Jahr 1816 wurden knapp 100.000 Familien (491.679 Seelen) gezählt.

Eine Aufgliederung nach Nationalitäten ergab, dass die Moldauer bzw. Rumänen mit 86% die Mehrzahl der damaligen Bevölkerung Bessarabiens stellten.

Außerdem wurden 6,5% Ruthenen (Ukrainer), 4,2% Juden, 1,5% Lipowaner3 im Donaudelta, 0,7% Griechen, 0.6% Armenier. 0,25% Bulgaren4 und 0,25% Gagausen5 gezählt.

 

Die deutschen Kolonisten waren in dieser Aufstellung noch nicht berücksichtigt. Auch die bessarabischen Zigeuner (Bezeichnung, die damals nicht als diskriminierend empfunden wurde), zu jener Zeit Sklaven der moldauischen Großgrundbesitzer und somit „Inventar” des Hofes, waren bei dieser Bevölkerungsrevision noch nicht einbezogen.

 

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Polen-Litauen um 1740
Polen-Litauen um 1740

1Der Ansiedlungsrayon (russ. Tscherta osedlosti/Черта оседлости; engl. Pale of Settlement oder auch nur The Pale) war ein zwischen 1791 und dem Ende des 19. Jahrhunderts (formal bis 1917) bestehendes Gebiet im Westen des Russischen Reiches und entsprach den historischen Grenzen Polen-Litauens, einem großen Teil des heutigen Litauen, Weißrussland, Polen, Bessarabien und der Ukraine, auf das das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung in Russland beschränkt war. Im späten 18. Jahrhundert lebten 4 Millionen Juden in diesem Ansiedlungsrayon.
1772, mit der ersten Teilung Polens kamen die Weiten Weißrusslands unter russische Herrschaft. Nun lebten plötzlich zirka 100.000 Juden auf russischem Staatsgebiet. Wie schon unter Anna Iwanowna und Elisabeth I. stellte sich nun die Frage, was nun mit den dort lebenden Juden?
Am 11. August 1772 bestätigte die aufklärerische Katharina II. den "Juden mit Wohnsitz in den Städten und Gebieten, die jetzt zum Russischen Reich gehörten, Religionsfreiheit". Damit setzte Katharina die Juden anderen Bevölkerungsgruppen gleich und gewährte deshalb auch keine Sonderprivilegien. Außerdem belegte sie die Anhänger des Judentums mit Steuern. Bei Übertritt zum orthodoxen Glauben sollten ihnen diese Steuern wieder erlassen werden.
1780 wurden die Juden in den Kaufmannsstand aufgenommen und 1783 wurden alle die in zugelassenen Gemeinden wohnenden Juden in den Bürgerstand gehoben, was eine Erlaubnis, in der kommunalen Führung tätig zu sein, zur Folge hatte. Die jüdischen Gemeinden waren verpflichtet Steuern zu zahlen und die Verantwortlichen mussten die Richtlinien des Staates im jüdischen Gebiet gewährleisten.
1791, als immer mehr Juden im russischen Leben integriert waren, wurde den Juden der kaufmännische Stand im Innern Russlands verboten, was eine Verbannung in die ehemaligen polnischen Provinzen oder nach Neurussland zur Folge hatte. Mit dieser Anordnung hatte die Zarin die Grundlage für den Ansiedlungsrayon geschaffen und die Juden als Konkurrenten der russischen Kaufleute wurden fortan von Moskau fern gehalten.
Mit den weiteren Teilungen Polens in den Jahren 1793 und 1795, was zirka 900.000 Juden bedeutete, wurden die gleichen Gesetze und Verordnungen in den neuen Gebieten angewendet, d.h die Juden wurden gezwungen sich im Ansiedlungsrayon niederzulassen, allerdings nur in Städten und in größeren Dörfern.
1794 wurde der Bereich des jüdischen Ansiedlungsrayons auf drei Provinzen der Ukraine, östlich des Dnjeprs, erweitert.
Mit dem Ukas vom 4. Juli 1794, indem Katharina verordnete, dass Juden doppelte Abgaben zu zahlen hatten als Christen, sollte die russische Politik gegenüber Juden eine bedrohliche Richtung einnehmen.

2Judenstatut von 1804 = vorausgesetzt, dass die russische Verfassung den Juden nie wohlgesonnen war, versuchte sie ihre neue dazugewonnene, vorwiegend jüdische Bevölkerung, ein “unerwünschtes“ Erbe des verstorbenen polnischen Staates, in ihr zaristisch-bürgerliches System einzubinden.
Dazu wurde die bis dahin bestehende jüdische Kulturautonomie 1791 von Katharina II.aufgehoben, indem sie den sogenannten Ansiedlungsrayon einrichtete, wo die Juden fortan leben mussten.
Um diese Lage der Juden zu "verbessern", führte Zar Alexander I., der 1801 den Thron bestieg, 1802 das Komitee“ Zur Verbesserung der Juden“ ein. Das Komitee schlug 1804 einige Maßnahmen vor, mit denen die Juden zur Assimilation ermutigt, aber nicht gezwungen werden sollten.
Einerseits brachte das Judenstatut Rechtsgleichheit, Religionsfreiheit, Besuch staatlicher Schulen (erlaubte aber auch den Besuch jüdischer Schulen, solange die Unterrichtssprache Russisch, Polnisch oder Deutsch war), Zugang zu bäuerlichen Berufen, was mit Landerwerb zur Gründung landwirtschaftlicher Siedlungen verbunden war. Dafür erhielten sie Privilegien, wie Freistellung vom Militärdienst, Steuernachlässe und reduzierte Bodenpreise. Außerdem erhielten sie den Zugang zu Handwerk und Unternehmen, womit sich Produktions- und Umerziehungshoffnungen verbanden; andererseits erneuerte das Statut eine Bestimmung, die Städtern seit 1782 verbot, in Dörfern zu wohnen und Spirituosenhandel zu treiben. Diese Bestimmung traf Juden besonders hart, da sie zumeist auf der Basis ihrer städtischen Berufe in die Klassen der Kaufleute oder Stadtbürger eingruppiert waren, obwohl die meisten als Händler, Gastwirte oder Bedienstete auf dem Lande, auf adligen Gütern oder im Schtetl lebten.
Damit sahen sich Tausende von jüdischen Familien ihrer Lebensgrundlage beraubt. Die Ausweisung aus den Dörfern wurde für einige Jahre aufgeschoben, 1822 in den weißrussischen Dörfern jedoch systematisch durchgeführt.

3Lipowaner = altgläubige orthodoxe Christen, die an der Donaumündung, im Budschak (heute Oblast Odessa, Ukraine) und in der Norddobrudscha (Rumänien), wohnen. Sie sprechen eine sehr alte Version der russischen Sprache. Im Russischen Reich wurden sie von Staat und Kirche verfolgt.

4Bulgaren = einzelne bulgarische Familien kamen schon 1770, 1790 und 1806 als Emigranten in die Gegend von Ismail, in den Budschak nach Südbessarabien, um Schutz vor dem Osmanischen Reich zu finden. 1812, nachdem Bessarabien zum Russischen kam, lebten bulgarische Kolonisten in 60 Dörfern Bessarabiens.
Größere Gruppen wanderten im Rahmen der russischen Ansiedlungen nach der endgültigen russischen Übernahme von 1812 ein. Sie ließen sich westlich von Ismajil bei der Stadt Bolgrad und auf den von den Tataren verlassenen Gebieten im Süden nieder.
1819 erhielten die 24.000 in Bessarabien lebenden Bulgaren eine Selbstverwaltung und den Kolonistenstatus, der mit Privilegien verbunden war. 1927 lebten zirka 150.000 Bulgaren in Bessarabien.

5Gagausen = christliche Volksgruppe im autonomen Gebiet Gagausien in Moldawien, im Südosten von Bessarabien, sowie in Russland, der Ukraine, Rumänien und Bulgarien; als Vorfahren der Gagausen gelten die Turkölker der Petschenegen und der Kyptschaken.

 

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